ADHS und Hochsensibilität verstehen – Wie Neurodiversität die Psyche beeinflusst

Was bedeutet Neurodiversität?
Ursprung und Entwicklung des Konzepts
Der Begriff Neurodiversität wurde in den 1990er-Jahren von der australischen Soziologin Judy Singer geprägt. Er bezeichnet die Vielfalt neurologischer Funktionsweisen als Teil der menschlichen Diversität – analog zur Vielfalt von Geschlecht, Kultur oder Sexualität. Neurodiversität geht davon aus, dass Unterschiede im Denken, Fühlen und Wahrnehmen keine Defizite, sondern natürliche Varianten des menschlichen Seins darstellen.
Typische neurodiverse Ausprägungen sind unter anderem:
- ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung): Menschen mit ADHS zeigen oft eine hohe Impulsivität, starke Ablenkbarkeit, aber auch Kreativität und besondere Problemlösefähigkeiten.
- Autismus-Spektrum-Störungen: Eine andere Art der Wahrnehmung, Kommunikation und sozialen Interaktion, die mit hoher Detailgenauigkeit und außergewöhnlichem Fokus einhergehen kann.
- Hochsensibilität: Ein Persönlichkeitsmerkmal, bei dem Reize intensiver wahrgenommen werden, wodurch sowohl Überforderung als auch besondere emotionale Tiefe entstehen kann.
- Lern- und Teilleistungsstörungen: Wie Legasthenie oder Dyskalkulie – ebenfalls Ausdruck neurodiverser Informationsverarbeitung.
Die Anerkennung von Neurodiversität fordert also dazu auf, nicht länger nur Defizite zu behandeln, sondern individuelle Stärken und Bedürfnisse sichtbar zu machen und zu fördern.
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Neurodiversität im Alltag
Im Alltag geraten neurodiverse Menschen jedoch oft in Konflikt mit gesellschaftlichen Normen und Anforderungen. Wer nicht den Erwartungen an Aufmerksamkeit, Belastbarkeit oder Sozialverhalten entspricht, wird schnell als „auffällig“ oder „gestört“ wahrgenommen.
Dabei kann eine neurodiverse Ausprägung – etwa ADHS oder Hochsensibilität – sowohl Herausforderung als auch Ressource sein. Menschen mit ADHS können in stressigen Situationen besonders kreativ und schnell reagieren. Hochsensible Personen nehmen emotionale Zwischentöne wahr, die anderen entgehen, und zeigen oft ein tiefes Einfühlungsvermögen.
Die zentrale Frage lautet daher nicht: „Wie werde ich normal?“, sondern vielmehr:
„Wie kann ich mit meinen neurologischen Besonderheiten gesund, erfüllt und stabil leben?“
Eine professionelle psychologische Behandlung, die auf die individuellen Bedürfnisse eingeht, kann hier ein wichtiger Schlüssel sein, besonders wenn es darum geht, Selbstwertgefühl aufzubauen und Symptome wie Überforderung, Angst oder depressive Verstimmungen zu lindern.
Warum neurodiverse Menschen oft Missverständnissen begegnen
Neurodiverse Menschen, insbesondere mit ADHS oder Hochsensibilität, erleben im Kontakt mit anderen häufig Missverständnisse. Das liegt daran, dass ihre Reaktionen, Denkweisen oder Bedürfnisse nicht immer dem „typischen“ Verhalten entsprechen, das von der Gesellschaft erwartet wird.
Typische Missverständnisse sind zum Beispiel:
- „Du bist einfach zu empfindlich.“
Hochsensible Menschen hören diesen Satz oft, wenn sie Reize wie Geräusche, Licht oder emotionale Spannungen intensiver wahrnehmen. Dabei ist ihre Reizverarbeitung neurologisch anders organisiert – sie benötigen daher häufiger Rückzug oder Reizarmut, ohne dass das gleich ein Zeichen von Schwäche ist.
- „Du kannst dich halt nicht konzentrieren.“
Bei ADHS geht es nicht um einen Mangel an Intelligenz oder Willenskraft. Vielmehr handelt es sich um eine andere Regulation der Aufmerksamkeit – Betroffene sind oft hyperfokussiert auf bestimmte Themen, während Routineaufgaben ihnen schwerfallen.
- „Du musst dich nur mehr anstrengen.“
Diese Aussage ignoriert, dass viele neurodiverse Menschen bereits enorm viel Energie investieren, um sich anzupassen. Die ständige Selbstkontrolle kann jedoch zu Erschöpfung oder psychischen Folgeerkrankungen führen.
Ein tieferes gesellschaftliches Verständnis für Neurodiversität ist notwendig, um Diskriminierung abzubauen und Menschen mit ADHS oder Hochsensibilität langfristig in ihrer psychischen Gesundheit zu unterstützen.
Symptome, Herausforderungen und Chancen von ADHS im Erwachsenenalter
Typische und atypische Erscheinungsformen
ADHS wird oft als eine Störung der Kindheit wahrgenommen, mit zappeligen Schüler*innen, Konzentrationsproblemen und impulsivem Verhalten. Doch viele Menschen, die im Kindesalter keine Diagnose erhalten haben, kämpfen auch im Erwachsenenalter mit den Symptomen, ohne zu wissen, woran es liegt.
Typische Symptome bei Erwachsenen sind:
- Unaufmerksamkeit: Schwierigkeiten, Aufgaben zu organisieren oder über längere Zeit konzentriert zu bleiben.
- Innere Unruhe: Ein ständiges Gefühl, „unter Strom“ zu stehen – selbst in Ruhephasen.
- Impulsivität: Schnell gesprochene Worte oder Handlungen, die später bereut werden.
Daneben gibt es auch atypische Erscheinungsformen, wie z. B. eine nach außen kaum sichtbare, eher „stille“ Variante von ADHS, die besonders häufig bei Frauen vorkommt. Diese Menschen wirken nach außen ruhig, leiden aber innerlich unter Reizüberflutung, Versagensängsten und Selbstzweifeln.
Psychische Belastungen durch gesellschaftliche Anforderungen
Menschen mit ADHS erleben im Erwachsenenalter häufig Konflikte mit gesellschaftlichen Erwartungen: Pünktlichkeit, Organisation, Leistungsfähigkeit. All das verlangt ein hohes Maß an Selbststeuerung. Für ADHS-Betroffene bedeutet das oft Dauerstress. Viele versuchen, durch ständige Anstrengung zu kompensieren, was langfristig zu Erschöpfung oder Depression führen kann.
Besonders im Berufsleben oder in der Partnerschaft zeigt sich die Belastung. Wer ständig vergisst, Termine einzuhalten oder Aufgaben korrekt umzusetzen, wird schnell als unzuverlässig eingestuft – ein schwerer Schlag für das Selbstwertgefühl.
Warum ADHS oft zu spät erkannt wird
Viele Erwachsene wissen nicht, dass sie ADHS haben. Die Symptome werden fehlinterpretiert, etwa als Persönlichkeitsdefizit, Faulheit oder mangelnde Disziplin. Ein Grund dafür ist die fehlende Sensibilisierung für ADHS außerhalb der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Vor allem bei Frauen* wird ADHS oft erst spät diagnostiziert – weil sie gelernt haben, sich besser anzupassen oder weil ihre Symptome eher mit innerem Rückzug als mit Hyperaktivität verbunden sind. Eine späte Diagnose kann jedoch auch positiv sein: Sie ermöglicht es Betroffenen, die eigenen Verhaltensmuster neu zu verstehen und gezielt Hilfe in Anspruch zu nehmen – z. B. durch eine Therapie bei ADHS.
Potenziale von ADHS-betroffenen Menschen
Trotz aller Herausforderungen darf eines nicht übersehen werden: ADHS kann auch Ressourcen freilegen, die in einer unterstützenden Umgebung zur Geltung kommen.
ADHS-betroffene Menschen sind oft:
- Kreativ und ideenreich – besonders in dynamischen Arbeitsfeldern.
- Spontan und anpassungsfähig, was sie in Krisensituationen zu wertvollen Teammitgliedern macht.
- Intensiv begeisterungsfähig, was zu außergewöhnlichen Leistungen führen kann – wenn das Thema stimmt.
Eine gezielte psychologische Behandlung, die diese Stärken einbezieht und auf die individuellen Bedürfnisse eingeht, kann den Weg zu einem erfüllten Leben ebnen.
Hochsensibilität
Definition und wissenschaftliche Einordnung
Hochsensibilität beschreibt ein Persönlichkeitsmerkmal, bei dem äußere und innere Reize intensiver wahrgenommen und verarbeitet werden. Der Begriff geht auf die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron zurück, die in den 1990er-Jahren erstmals wissenschaftlich über hochsensible Personen (HSP – Highly Sensitive Persons) forschte. Bis heute ist Hochsensibilität jedoch keine anerkannte Diagnose, sondern ein Konzept, das in der psychologischen Praxis zunehmend Beachtung findet.
Hochsensible Menschen nehmen oft Details wahr, die andere übersehen – seien es feine Geräusche, Stimmungen im Raum oder subtile Veränderungen in der Umgebung. Dieses gesteigerte Empfindungsvermögen kann ein großer Vorteil sein, führt aber häufig auch zu Überforderung, Reizüberflutung und psychischer Erschöpfung.
Abgrenzung zu ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen
Hochsensibilität wird in der Öffentlichkeit oft mit ADHS oder Störungen aus dem Autismus-Spektrum verwechselt. Tatsächlich gibt es Überschneidungen, etwa bei der Reizverarbeitung oder der sozialen Überforderung – dennoch handelt es sich um grundverschiedene neuropsychologische Phänomene.
Ein paar zentrale Unterschiede im Überblick:
- Reizursache: Bei Hochsensibilität liegt keine neurologische Störung zugrunde, sondern eine erhöhte Empfänglichkeit. Bei ADHS oder Autismus handelt es sich um neurologisch verankerte Besonderheiten.
- Soziale Interaktion: Hochsensible Menschen haben meist ein gutes Einfühlungsvermögen und soziales Verständnis. Autistische Personen können hier größere Herausforderungen erleben.
- Impulsivität: Hochsensible Menschen reagieren eher vorsichtig und reflektiert, während bei ADHS eine erhöhte Impulsivität typisch ist.
Gerade weil die Grenzen unscharf sein können, ist eine fachkundige psychologische Behandlung wichtig, um individuelle Bedürfnisse zu erkennen – und keine vorschnellen (Fehl-)Diagnosen zu stellen.

Wechselwirkungen zwischen ADHS und Hochsensibilität
Komorbidität und Doppeldiagnosen
ADHS und Hochsensibilität schließen sich nicht gegenseitig aus – im Gegenteil: Viele Betroffene erleben beide Merkmale gleichzeitig, was in der Fachsprache als Komorbidität bezeichnet wird. Auch wenn Hochsensibilität keine Diagnose im medizinischen Sinne ist, lässt sich beobachten, dass hochsensible Menschen häufiger ADHS-Merkmale aufweisen und umgekehrt.
Diese Doppelausprägung kann den Alltag erheblich erschweren. Während ADHS für Impulsivität und Ablenkbarkeit sorgt, führt Hochsensibilität zu einer erhöhten Reizverarbeitung. Das Ergebnis ist oft ein inneres Spannungsfeld zwischen Aktionismus und Überforderung. Betroffene beschreiben, dass sie sich schnell für vieles begeistern, aber ebenso schnell erschöpft oder emotional überfordert fühlen.
In solchen Fällen ist eine differenzierte psychologische Behandlung entscheidend – nur so kann klar erkannt werden, welche Symptome worauf zurückzuführen sind und wie eine wirksame Unterstützung aussehen sollte.
Auswirkungen auf Beziehungen, Beruf und Selbstwertgefühl
Die gleichzeitige Ausprägung von ADHS und Hochsensibilität wirkt sich oft spürbar auf das soziale und berufliche Leben aus:
- In Beziehungen erleben Betroffene häufig starke emotionale Reaktionen – von intensiver Nähe bis zu plötzlichem Rückzug. Konflikte entstehen oft durch Missverständnisse oder Überstimulation.
- Im Beruf kann es zu Problemen bei der Organisation, dem Zeitmanagement oder der Teamkommunikation kommen, vor allem in schnelllebigen oder reizintensiven Arbeitsumfeldern.
- Der Selbstwert leidet oft unter den ständigen Anpassungsversuchen. Viele Menschen erleben sich als „zu sensibel“, „nicht belastbar genug“ oder „unfähig, normal zu funktionieren“.
Das Gefühl, „nicht richtig zu sein“, kann langfristig zu Depressionen, Angststörungen oder Rückzugsverhalten führen. Eine gezielte Therapie bei ADHS, die auch hochsensible Aspekte berücksichtigt, kann hier entlastend wirken.
Therapeutische Herausforderungen bei Überschneidungen
In der therapeutischen Praxis ist es oft eine Herausforderung, zwischen ADHS und Hochsensibilität zu differenzieren – und trotzdem beide Aspekte zu berücksichtigen. Standardisierte Behandlungsansätze stoßen hier schnell an Grenzen.
Was es braucht, ist ein individualisierter Zugang, der:
- die Reizempfindlichkeit von hochsensiblen Patient*innen respektiert,
- die Impulsivität und Strukturprobleme bei ADHS adressiert,
- und vor allem die Stärken und Ressourcen der Betroffenen sichtbar macht.
In der Klinik Friedenweiler setzen wir auf genau solche maßgeschneiderten Ansätze im Rahmen der psychologischen Behandlung, die sowohl neurodiverse Herausforderungen als auch persönliche Entwicklungsziele berücksichtigt.
Behandlungsmethoden in der Klinik Friedenweiler
In der Klinik Friedenweiler verfolgen wir einen ganzheitlichen und individuell angepassten Ansatz zur psychologischen Behandlung von Menschen mit ADHS, Hochsensibilität oder anderen Formen von Neurodiversität. Ziel ist es, Ihre persönlichen Stärken zu fördern, psychische Belastungen zu verringern und langfristig zu mehr Lebensqualität zu führen.
Folgende Therapieformen kommen dabei – je nach Bedarf – zum Einsatz:
- Einzelgesprächstherapie zur Bearbeitung individueller Themen, Förderung von Selbstreflexion und emotionaler Stabilität
- Kognitive Verhaltenstherapie, um Denk- und Verhaltensmuster zu erkennen und gezielt zu verändern
- Achtsamkeitsbasierte Psychotherapie (MBPT) zur besseren Wahrnehmung von Gedanken, Gefühlen und körperlichen Reaktionen
- Entspannungsverfahren wie progressive Muskelrelaxation oder Atemübungen zur Regulation innerer Unruhe
- Körpertherapie sowie Bewegung und Sport, um Spannungen abzubauen und das Körperbewusstsein zu stärken
- Therapeutisches Bogenschießen, das Konzentration, Ruhe und Fokus vereint
- Tiefenpsychologisch fundierte oder systemische Therapie, um biografische Hintergründe und Beziehungsmuster zu verstehen
- Tiergestützte Therapie, die über den emotionalen Zugang zu Tieren einen besonders sanften Therapieansatz bietet
- Psychoedukation, also strukturierte Wissensvermittlung über ADHS, Hochsensibilität und deren Umgang im Alltag
Begleitet werden diese Methoden durch unser interdisziplinäres Team aus Psychotherapeut*innen, Fachärzt*innen, Körpertherapeut*innen und Co-Therapeut*innen. Gemeinsam entwickeln wir mit Ihnen einen Therapieplan, der sich an Ihrer Lebensrealität orientiert und Sie dabei unterstützt, Ihre neurodiversen Eigenschaften besser zu verstehen und konstruktiv zu nutzen.
FAQ
Gibt es spezielle Therapiegruppen für hochsensible Menschen oder ADHS-Betroffene?
Ja, manche Kliniken oder Therapeut*innen bieten gezielte Gruppenangebote für Betroffene an, z. B. zur Reizregulation, Stressbewältigung oder zum Erfahrungsaustausch. Die Verfügbarkeit hängt vom jeweiligen Behandlungsort ab.
Kann ADHS im Erwachsenenalter auch ohne Medikamente behandelt werden?
Grundsätzlich ja. Viele Menschen profitieren von verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, Coaching, Achtsamkeitstraining oder Strukturhilfen im Alltag. Ob eine medikamentöse Unterstützung sinnvoll ist, sollte individuell abgewogen werden.
Wie erkenne ich als Angehörige*r, ob jemand ADHS oder Hochsensibilität hat?
Es gibt bestimmte Verhaltensweisen, die Hinweise liefern können – etwa starke Ablenkbarkeit, emotionale Reizbarkeit oder sozialer Rückzug. Eine fundierte Einschätzung sollte jedoch immer durch einen Fachärzt*in oder Psychotherapeut*in erfolgen.

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